Das Phänomen Moralisches Lizenzieren
Beim Moralischen Lizenzieren tritt folgendes Phänomen auf:
Eine Person, die eine starke soziale Norm für moralisches Handeln bedient, z.B. indem sie besonders tolerant oder umweltfreundlich agiert, verliert im Nachgang an Verlangen weiterhin moralisch zu handeln. Im schlimmsten Fall wandelt sich das moralische Verhalten gar in unfaires oder unsoziales Verhalten.
Eine präzise und eindeutige Erklärung für dieses in Studien mehrfach nachgewiesene Phänomen kann die Wissenschaft noch nicht liefern. Schauen wir uns daher die drei gängigsten Varianten einmal an.
1. Die moralische „Kauf dich frei Karte“
Wir möchten für unseren nächsten Städtetrip mit Freunden gerne komfortabel und zeitsparend von Köln nach Wien reisen und steigen dafür ins Flugzeug.
Einer aus der Runde kriegt ein schlechtes Gewissen, weil sich diese Reise negativ auf seinen CO2-Fußabdruck auswirkt. Aber zum Glück hat die Fluglinie das passende Angebot bereits parat und bietet ihm an, gegen zusätzliche Euros seinen CO2-Fußabdruck zurück auf null zu setzen. Bedürfnis tritt Angebot. Soweit so gut.
2. Das moralische Konto
Manche füllen ihr moralisches Konto mit bestimmten Produkten aus dem Supermarkt, mit einer Spende für eine wohltätige Einrichtung oder mit grünem Strom. Und erkaufen sich damit das Gefühl hinzu, es bei anderen Dingen im Leben mit der Moral nicht ganz so wichtig nehmen zu müssen. Das nehmen wir meist so nicht wahr und ich möchte auch niemandem eine tiefe Überzeugung für gute Dinge absprechen. Schwierig wird es aus meiner Sicht erst, wenn es nicht mehr um die gute Sache an sich geht, sondern das eigene Ego.
3. Die moralische Identität
Denn vielfach ist zu beobachten, dass der Einsatz für eine gute Sache ersetzt wird durch den reinen Fokus auf die eigene moralische Identität. Ein Firmeninhaber, der sich dazu entschließt einen firmenweiten, geschlechtsneutralen Sprachkatalog einzuführen und Verstoße zu maßregeln, mag sich als progressiver Geist betrachten.
Kommt dann jedoch heraus, dass der Gender-Pay-Gap in seiner Firma über alle Vollzeitpositionen bei rund 20% liegt, stellt sich die Frage wie sehr es ihm hier um „Fortschritt“ geht und wie sehr um das Polieren der eigenen moralischen Identität oder der von außen wahrgenommener Identität seines Unternehmens. Aus meiner Sicht ein Praxisbeispiel für die unangenehmste Form des moralischen Lizensierens.
Gutes Tun und drüber sprechen
Zum Abschluss noch mein persönlicher Tipp wie ihr aufrichtige Taten von moralisch aufgesetzten Aktionen unterscheiden könnt. Bei der ehrlichen guten Tat, sei es für Andere oder die Umwelt, liegt der Fokus auf der Sache selbst und weniger auf der eigenen (Außen)Wirkung.
Selbstverständlich ist es gut über gute Dinge zu reden, ob die Hilfe für andere, Geldspenden oder ähnliches. Das Problem entsteht, wenn diese Dinge zu kalkulierten Investments werden statt Akten der Großzügigkeit.
ps: Ich selbst bin übrigens kein moralisches Vorbild; habe Aktien von Unternehmen aus teilweise "unmoralischen" Branchen und einen relativ fetten CO2 Fußabdruck durch viele (Geschäfts-)reisen. Mein Argument zielt daher auch nicht auf die breite Masse ab, die sich ab und zu gern ein Steak auf den Grill legt oder nach Mallorca in den Urlaub fliegt. Stattdessen wäre mein Vorschlag für eine bessere Welt dieser hier: 99% der Menschen auf dem Planeten steigern sich in moralischen Dingen um 1% und 1% der Menschen um 99%. Das wäre mal ein echter "Game-Changer" ...
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